Valencia, mi amor - Die Wohnmobilisten
Wenn man die Grenze des Landes Valencia von Norden überquert und die Seitenfenster des Wohnmobils geöffnet hat, wird man eingehüllt, geradezu umnebelt vom einzigartigen Duft der blühenden Orangenbäume, dem köstlichen Azahar. Auch Heinz und Günter fuhren in mäßigem Tempo auf der Nationalstraße 332, auf der Hut vor der übergriffigen Guardia Civil Trafico und deren Leitspruch „Todo por la patria“, „Alles für das Vaterland“. Geschwindigkeitsübertretung ist teuer, das wussten die beiden aus früheren Erfahrungen. Tief sogen sie den betörenden Duft der Orangenblüten durch ihre norddeutschen Nasen (ein) und verglichen ihn mit dem käsigen Geruch blühender, gelbleuchtender Rapsfelder der Heimat. Heinz verteidigte die Rapsblüte und schwärmte von der Bodenständigkeit und Ehrlichkeit im Duft der Rapsblüte, während er im Azahar weibliche Verführung und schwüle Süße witterte. „Wie? Süße Schwule?“ missverstand Günter. Gemeint war das aber als kleine Provokation, um ein Geplänkel in Gang zu setzen oder zu halten. „Im Übrigen könnt‘ ich mich reinsetzen in den Apfelsinenblütenduft“. Heinz saß konzentriert im Fahrersessel des Hymer 620 Concordia und beobachtete den Verkehr durch seine getönte Gleitsichtbrille. „Red‘ du man. Wenn einer von uns beiden schwul ist, bist du das“, sagte Heinz lässig. Beider Aufmerksamkeit wurde jetzt von Prostituierten oder Bordsteinschwalben gefesselt, die auf weißen Plastikstühlen ohne Sonnenschirm am Straßenrand auftauchten und auf Freier warteten. Schwarze Frauen, tiefbraune Frauen mit Sonnenbrillen in knappen Kleidern oder kurzen Höschen. Sie erwiderten die Blicke unserer aufgeregten Wohnmobilisten und machten eindeutige Gesten. Günters Smartphone klingelte, das heißt, es spielte die Vereinshymne vom Absteiger HSV 96, „Alte Liebe“. Günter ging dran. „Hallo Schatz, ja, alles im Lack. Nein, uns geht’s gut. Ja, Heinz auch. Mach dir keine Sorgen. – Kurz vor Denia. Ja, mach’s gut. Heinz lässt grüßen. Tschüss, ich dich auch.“ „Es war Ingeborg, sie lässt grüßen.“ Heinz bog ab in eine kleine Nebenstraße. Er hielt. Er hatte Appetit. Heinz und Günter drehten Fahrer- und Beifahrersessel nach hinten, und Heinz holte eine Dose Knacker aus dem Kühlschrank. Er zog am Ring und der Deckel hatte verloren. „Magst du auch?“ Heinz schob sich einen Knacker ganz in den Mund. Günter schüttelte den Kopf. Er holte zwei Büchsen Carlsberg alkoholfrei aus dem Kühlschrank und sie knallten die Büchsen aneinander. Heinz verzehrte drei Knacker mit großem Appetit und stellte die restlichen Würstchen in die Kühlschranktür zu den Flaschen. Langsam fuhr Heinz durch die Kleinstadtgassen und die Reifenprofile des Hymermobils sammelten Hundehinterlassenschaften auf. Der Kot drückte sich in die Rillen der Reifen. Günter sagte etwas über die Formähnlichkeit der Würstchen, die Heinz gerade verdrückt hatte, und dem Hundekot, den sie überfuhren und der in Spanien aufgrund der milden Temperaturen nicht so schnell verwitterte/erodierte wie in Deutschland, sondern, im Gegenteil, eher mumifiziert wurde. Manche Städte hatten, weil sie das Problem erkannten, einerseits Straßenschilder mit durchgestrichenen kackenden Hunden und mit Bußgeldandrohung bis 3000 Euro aufgestellt, andererseits eingezäunte Hundeparks mit Kotbeutelautomaten eingerichtet, die sowohl als Hunde- als auch Menschenbegegnungsstätten apostrophiert/angepriesen wurden, um das auch deutsche Kommunen quälende Phänomen einzudämmen. Heinz sinnierte darüber, ob man den Kot mit umgestülptem Plastikbeutel eher körperwarm oder abgekühlt aufnehmen sollte und welches haptische Erlebnis man jeweils dabei haben könnte. Günter ekelte sich. Heinz hatte die Auffahrt zur Nationalstraße erreicht, und jetzt, bei Schnellfahrt/höherer Geschwindigkeit, löste sich die Hundescheiße aus den Reifenprofilen und klopfte arrhythmisch in den Radkästen. Günter schaltete das Radio ein, sie hörten aufgeregte, schnellsprechende spanische Frauen- und Männerstimmen. Schließlich fand der Sendersuchlauf Purple Haze von Jimi Hendrix. Beide Männer wippten mit den Köpfen. Günter spielte Luftgitarre/versuchte Luftgitarre zu spielen, dann verfielen beide in Schweigen, während sie ihren Gedanken nachhingen. Es sollte zwei Stunden andauern. Beide hatten, unabhängig von einander, und ohne dass sie sich je darüber ausgetauscht hatten, noch das Körpergefühl von höchstens Dreißigjährigen in ihrer biologischen Hochblüte, als sie noch straffe, muskulöse Figuren hatten und täuschten sich beim Blick in den Spiegel über Bierbäuche, Männerbrüste und welkes Fleisch hinweg. Natürlich wussten sie, wie jeder, der bei Trost war, von ihrer Endlichkeit. Die Frage war: Wann ist der Anfang vom Ende? Beginnender grauer Star? Noch mehr Krampfadern in den Beinen? Immer schlechter werdendes Gehör? Die Verzweiflung über die zusammenschnurrende, statistisch verbliebene Lebenszeit wurde von den beiden, ohne dass sie sich darüber verständigt hätten, im Wachzustand energisch zurückgewiesen, doch in symbolhaften Träumen kam sie wieder und konnte sie unterschwellig halbe Tage trotz blitzblauem Himmel und Sonnenschein in quälende Stimmung versetzen, die mit dem Begriff „schlechte Laune“ nur unzureichend beschrieben war.
In der milden Abendsonne waren sie in die Gebirgsketten der Marina Alta abgebogen. Es hatte Streit zwischen Günter und Heinz gegeben, ob sie einen offiziellen Campingplatz ansteuern oder wild campen sollten. Heinz hatte sich durchgesetzt. Es sollte in der Bergeinsamkeit übernachtet werden, was in Spanien nicht direkt verboten ist. Ihr Wohnmobil hatte sich auf der schmalen von Leitplanken und Betonblöcken gesäumten Bergstraße auf über tausend Meter emporgearbeitet. Der Motor hatte gestöhnt und geächzt, aber schließlich hatten sie es geschafft. Sie waren in dem Weiler Quatretondeta in der Einöde angekommen. Inzwischen war es dunkel geworden und im Gegensatz zur gut beleuchteten quirligen Küste war es wirklich finster. Das Sternensalz war in alle vier Himmelsrichtungen unregelmäßig ausgestreut. Der Mond war nicht zu sehen. Sie hatten etwas außerhalb des Ortes einen waagerechten Standplatz gefunden. Sie brieten sich Spiegeleier auf dem kleinen Herd, die sie hungrig mit Weißbrot, barra de pan, Tomaten und Aioli, der Knoblauchmayonnaise verspeisten. Dazu gab es valenzianischen Rotwein aus Monastrelltrauben, dann zum Nachtisch Moscatel, einen hervorragenden Süßwein, und zum Abschluss leerten sie noch eine noch halbvolle Flasche Brandy. Der Alkohol hatte den Wohnmobilisten arg zugesetzt. Sowohl Günters als auch Heinz‘ Artikulation litt während ihres weiträumigen Gesprächs über altsteinzeitliche Höhlenmalerei, Flüchtlingsdrama und Britanniens Austritt aus der EU zusehends unter Auflösung. Ohne Abendtoilette legten sie sich in ihre Kojen, nicht ohne sich draußen an einer schwarzen Felswand noch einmal erleichtert zu haben. Günter hatte unten seinen Schlafplatz, Heinz oben im Alkoven, der mit einer kleinen Leiter zu erreichen war. Ein feiner Wind war aufgekommen, der kleine Steinchen, Staub und Sandkörnchen gegen die Flanken des Hymermobils trieb und ein leises Knistern erzeugte. Das hörten unsere Schläfer nicht mehr, in deren Schlaf sich sehr unterschiedliche Träume gemischt hatten. Irgendetwas stimmte nicht in Quatretondeta. Die Sterne hatten ihre Zipfelmützen aufgesetzt und zwinkerten mit den Äuglein um die Wette. Oder: Der schwarze Himmel ließ ein Gesprenkel trockner, kalter Sterne sehen.